Dienstag, 20. September 2022

Mit anderen Augen

 Ich begleite Eva nun den dritten Tag auf ihrer Reise. Wir sind zwei Ochsen, ein Wagen, zwei Hunde, zwei Hühner und nun zwei Frauen. Eva kennt ihr ja, aber mich noch nicht. Ich heiße Dietlind und komme aus Deutschland und bin 22 Jahre alt. Kennengelernt habe ich Eva, als sie zwei Nächte bei den Geißelerwibern vom Brienzersee verbracht hat. Bei denen arbeite ich gerade gegen Kost und Logis. Spontan habe ich Eva gefragt, ob ich mitreisen darf und sie hat ja gesagt. Am Sonntag bin ich in Guttannen mit Eva gestartet. Jetzt drei Tage später haben wir den Grimselpass überquert und heute Morgen den ersten Frost, minus 5 Grad erlebt. 





Es kommt mir vor als wären wir irgendwo auf der Welt. Gestern sind wir durch eine Mondlandschaft gewandert und jetzt sind wir gefühlt in Sibirien. Alles dabei zu haben, fortbeweglich zu sein, nichts zu Tragen und gemächlich zu laufen (aber nur wenn’s bergauf geht, bergab rasen die Ochsen geradezu) und ganz viel gucken zu können ist herrlich! Es beeindruckt mich, wie eng Eva mit ihren Tieren zusammen lebt. Alle schauen zu ihr auf und hören auf ihr Wort. Ich stelle mir vor, dass es als Tier schön ist, wenn ein Mensch so viel Leben mit ihm teilt. Und Eva teilt ihr Leben wirklich mit den Tieren. Es gefällt mir, Teil dieser Welt sein zu dürfen. Und ich mag diese Art des Reisens. Langsam, leise und umweltfreundlich. Für mich sogar ganz sorglos, weil Eva alles plant und alleine klar kommt. Ich erlebe ganz viel neues und sehe ganz viel neues. Zum Beispiel durch einen Autotunnel zu laufen war echt stressig und laut und beängstigend. Aber jetzt weiß ich wie es ist. Oder wie es ist berühmt zu sein, denn wir werden andauernd ohne gefragt zu werden fotografiert. Wir sind nicht berühmt, aber wir sind einzigartig und kurios und wunderschön. Vor allem die Ochsen. Ich bin schon stolz darauf, das Ochsengespann zu halten, wenn Eva pinkeln muss oder einen Ochsen zu führen, wenn wir für die Mittagspause ausspannen. Mein Kopf wird leer von all den normalen Alltagsgedanken, leer von Planen und Fortbewegen und Arbeiten und menschliche Kontakte pflegen. Denn es ist einfach klar, wie ich mich fortbewege, klar was ich sehe, klar dass der Zaun für die Ochsen auf- und abgebaut werden muss und klar, dass ich nur Eva und die Tiere sehe und spreche. Mein Handy verwaist im Rucksack auf dem Wagen. Was bleibt, sind meine Träume nachts und Erinnerungen an die Menschen, von denen ich mich nicht trennen kann, die in mir herumrumoren. Aber diese Gedanken werden klein und reduziert angesichts der überwältigenden Berglandschaft.

Für mich ist es ein unglaublich starkes Naturerlebnis, ein Bergerlebnis, ein Schweizerlebnis, ein Nutztiererlebnis, ein Straßenverkehrserlebnis, ein Campingerlebnis und ein Evaerlebnis. Ich darf sie ein Stückchen kennen lernen. Ich bin neugierig, welche Seiten sie mir zeigt und über was sie schweigt.

Danke Eva!


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